Was schreiben die anderen

 

Das Scheitern von Schutzengeln ist besorgniserregend

Thomas Isermann legt nach seinem Sonettenbuch „Mondrosen“ nun ein weiteres dichterisches Werk vor: „Scheiternde Schutzengel“. Auf den ersten Blick verwundert der Untertitel Romanfragment. Heißt das, der Roman ist nicht fertig geworden? Spätestens nach der Lektüre weiß man, dass das nicht gemeint ist. Das Buch endet nämlich genau zu dem Zeitpunkt, zu dem es begonnen hat. Zu Beginn beobachtet der Leuchtturmwärter Jens, wie ein Flugzeug seine Kreise zieht, eine liegende Acht, das Zeichen für Unendlichkeit, und dann aufs Meer hinausfliegt. Auf den letzten Seiten taucht der Flieger genau dort wieder auf – diesmal mit dem Leser an Bord.

Die 230 Seiten dazwischen sind prall gefüllt mit Berliner Typen, die zu treffen ein Leben nicht ausreicht: eine verliebte Postbotin, die es mit dem Briefgeheimnis nicht so genau nimmt, ein U-Bahn-Fahrer, der sich keinen schöneren Beruf vorstellen kann, ein Major der Luftwaffe aus der ehemaligen DDR und viele andere aus allen Schichten der Gesellschaft, vom drogenabhängigen Obdachlosen bis zum vegetarischen Multimillionär aus Amerika. Ihre Kreise berühren sich, teilweise ohne dass sie es selbst bemerken. So entsteht ein Großstadtreigen, in den der Leser hineingezogen wird. Dass ihm trotz des Wirbels nicht schwindlig wird, ist der Kunst des Autors zu verdanken. Der Blick bleibt lange genug bei einer Person, um sie kennenzulernen, doch nicht lange genug, um das Schicksal mit ihr zu teilen. Weiter, weiter! scheint Isermann uns zuzurufen, bloß nicht verweilen, nicht gefühlig werden, und ehe man sich versieht, ist man beim Nächsten. Das geschieht plötzlich, aber nie unvermittelt, sondern angestoßen durch eine zufällige Begegnung, eine Geste, einen Rempler oder ein hingeworfenes Wort. Isermann zeigt, wie jeder in seinem Lebenskreis aus Trieben, Träumen und Taten steckt, doch immerhin die Freiheit behält, Nein zu sagen und auszubrechen, oder in der Sprache des Autors: die Tangente anzulegen an den Teufelskreis.

Wie verhält es sich aber mit der Erzählzeit? Angehalten wird sie nicht, sonst hätte man nur Stillleben vor sich. Sie wird zerteilt, wobei die einzelnen Episoden simultan oder zeitversetzt ablaufen. Dabei ähneln sie den Splittern eines kubistischen Gemäldes. Romanfragment dürfte eher in diesem Sinne gemeint sein. Erst wenn man genügend weit zurücktritt, verschmelzen die Puzzlesteine zu einem einheitlichen Ganzen. Aus himmlischer Perspektive ist jeder nur noch ein Rädchen im unüberschaubaren Weltgetriebe, und die Zeit scheint still zu stehen.

Damit wären wir bei den im Titel angekündigten Engeln. Wir müssen lange warten, bis endlich einer sichtbar wird, an einem Laternenpfahl hockend mit zerfledderten Flügeln, eine weiße Gestalt, durch die man hindurchsieht. Das himmlische Wesen schweigt, denn es spricht nur durch die Menschen. Es ist eine hoffnungslose Gestalt, erschöpft und überfordert, denn der Nachwuchs fehlt. Doch was noch schlimmer ist: Die Geflügelten sind führerlos, denn Gott, von dem sie dereinst Botschaften überbrachten, ist verschwunden. Eine Existenzberechtigung räumt der Autor nur noch den Schutzengeln ein, da sie die einzigen seien, an die die Menschen noch glauben – und auch das nur, wenn sie Erfolg haben. Wer kann es den Engeln unter diesen Umständen verübeln, dass sie meistens scheitern müssen? Doch so lange es sie noch gibt, ist vielleicht noch Hoffnung.

Expressiv und bilderreich geschrieben steht dieses Buch in der Tradition der modernen Großstadtromane, doch gibt es hier keinen Helden mehr – nur noch Iche, die mehr oder weniger unverbindlich und zufällig miteinander interagieren. Spiegelt sich darin nicht unsere Zeit?

Thomas Isermann: Scheiternde Schutzengel. Romanfragment. Verlag Gunter Oettel, Görlitz, Zittau 2019, 235 Seiten. ISBN 978-3-944560-52-6; 20 Euro

Dirk Schmoll

 

Ein Buch zur Warnung

Der Roman „Fukushima. Glückliche Insel“ von Johannes Balve handelt von der Reaktorkatastrophe in Japan nach dem Tsunami am 11.3.2011.

Zu Beginn landet der Leser mit der französischen Journalistin Jeanne Dufrou auf dem Flughafen von Narita. Im ersten Kapitel „Wetterleuchten“ lernt er außer ihr Ianthe Grüninger, ihren Ehemann Toni, der bei der österreichischen Handelskammer arbeitet, und ihre drei Kinder kennen, sowie den amerikanischen Geheimagenten Jonathan Heartley. Jede dieser Personen befindet sich in einem anderen Stadtviertel von Tokio, so dass man nebenbei unterschiedliche Eindrücke von dieser Weltstadt erhält.

Im zweiten Kapitel erlebt der Leser die ersten fünf Tage der Katastrophe beim Einkaufen, in Tonis Büroturm, im Botschaftsgebäude, in der Schaltzentrale des Atomkraftwerks, dann in der Villa der Familie Grüninger, im Hotelzimmer von Jeanne und immer wieder im Zentrum des Kraftwerks. Wer dieses Kapitel liest, bekommt eine Vorstellung, wie es ist, wenn die Atomenergie - von Balve als Fackel beschrieben, die der Sonne entrissen wurde – außer Kontrolle gerät. Lebensnäher kann man nicht erzählen! Der Leser atmet erst auf, als er mit der Familie Grüninger im Flugzeug sitzt.

In den folgenden drei Kapiteln, überschrieben mit „Krise“, „Aufklärung“ und „Heimkehr“, entfaltet sich eine spannende Handlung, bei der es darum geht, die politischen Hintergründe zu erhellen. Spuren führen über die japanische Mafia bis nach Nordkorea. Es tritt ein Professor für Astrophysik auf, der ein Modell zur Vorhersage von Erdbeben entwickelt hat und plötzlich verschwindet. Toni, der ohne seine Familie nach Tokio zurückgekehrt ist, verliebt sich und sucht spirituellen Halt in einer Freikirche, während Ianthe an einer Zen-Meditation in einem japanischen Wallfahrtsort teilnimmt. Neben Tempo und Suspense gibt es also auch Passagen, in denen der Leser mit den Protagonisten Wege der inneren Einkehr betreten kann. Viele Rätsel lösen sich auf, nicht jedoch das Schicksal des Physikers Prof. Sieveking, von dem nur noch ein Tagebuch gefunden wird.

Das Buch hat einen nicht zu überschätzenden Wert als Dokumentation einer Umweltkatastrophe, die der Autor selbst erlebt und in gründlichen Recherchen aufgearbeitet hat. Doch bietet das Werk noch mehr: Es eröffnet Zugänge zur Lebenswelt von Europäern in einer fernöstlichen Kultur mit ihren Sorgen, Sehnsüchten und existentiellen Krisen, zum anderen bietet es Einblicke in politische Hintergründe und entwickelt eine originelle naturwissenschaftliche Hypothese zur Erdbebenentstehung. Der Roman ist flüssig geschrieben, und die Erzählstränge sind fein ineinander verwoben.

Möge dieses Buch dazu beitragen, die Menschheit vor einer atomaren Verseuchung der Erde zu bewahren. Die politisch Verantwortlichen in Japan scheinen aus dem Unglück bisher allerdings nicht lernen zu wollen, wie Balve in einem Schlusswort ausführt.

Johannes Balve: Fukushima. Glückliche Insel. Roman. Bookstation GmbH, Anzing 2020. 291 Seiten. ISBN: 978-3-000-65017-8; 17,50 Euro

Dirk Schmoll